Gedenkstein  

„Vergesst uns nicht“
- Vergesst uns nicht, waren die letzten Worte so manchen Häftlings, der in den Armen eines Kameraden starb, war die Botschaft aus den letzten Blicken vieler Sterbender. „Vergesst uns nicht“ das ist der Auftrag, dem wir uns verpflichtet fühlen.
 
 

Gefangene
Zeichnung: Wilhelm Sprick


 

Paul Radicke:

Das Massensterben im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen

Im März 2008 behauptete der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen bei der Präsentation des Totenbuches eine fehlende Tötungsabsicht des NKWD.


1955 konstatierte die SPD: "Die zu Beginn der Besetzung 1945 eingerichteten Konzentrationslager hatten den Charakter von Vernichtungslagern bis zum Jahre 1948".

Nach dem Massensterben der ersten beiden Jahre war die Herabsetzung der Rationen im November 1946 ein Verbrechen, denn sie mußte zwangsläufig zum noch schnelleren Tod Tausender führen. Das NKWD hatte die Menschen ohne Prüfung einer etwaigen Schuld verhaftet und bereits Anfang 1946 erkannt, daß gegen Tausende der Häftlinge keine belastenden Dokumente vorlagen.


Es hatte wiederholt ihre Entlassung vorgeschlagen und darauf hingewiesen, daß von den Gefangenen keine Gefahr ausgehe. Doch Berija und Stalin folgten diesen Vorschlägen nicht. Auch hätten die im Lager schwer Erkrankten wegen Haftunfähigkeit entlassen werden müssen. Wäre dies geschehen, hätte keiner verhungern müssen.

Die Überlebenden erinnern sich, auch nach über 60 Jahren, an die Lagerbedingungen sehr genau: Es fehlte an allem, was zum Leben eines Menschen notwendig ist. Nahrung; die Menge reichte nicht, vor allem aber war sie zu einseitig, Fett und Eiweiß fehlten fast völlig. Dies führte zu Abmagerung auf Dystrophie 3. Grades.

Die Baracken waren überbelegt. In der Zone 2, in der die SMT-Verurteilten untergebracht waren, herrschte qualvolle Enge, die gegenseitige Ansteckung mit Tbc begünstigte. Die Baracken waren bis auf schmale Gänge mit Pritschen vollgestellt, und es gab keinen Aufenthaltsraum für den Tag. Anderthalb Jahre mußten die Häftlinge Tag und Nacht bei vernagelten und mit Farbe zugestrichenen Fenstern auf Pritschen, die ihnen noch nicht einmal genügend Platz zum Schlafen boten, dahinvegetieren. Heizung – Viele Baracken waren nicht oder kaum geheizt.

Vor allem im Winter 1946/47 war es so kalt, daß viele auf ihren Pritschen erfroren, auf denen sie ohne Strohsack und ohne Decke liegen mußten, der eiskalten Luft ausgesetzt, die von unten durch die Ritzen zwischen den rohen Brettern heraufdrang. An Kleidung hatten die Häftlinge das, was sie bei ihrer Verhaftung am Leibe trugen. Nur wenige besaßen eine Decke oder einen Mantel. Hiermit mußten sie Tag und Nacht über Wochen, Monate und Jahre auskommen. Die Kleidung verschliss, wurde durch die häufigen Entlausungen immer brüchiger und hing schließlich in Lumpen um ihre Körper. Wer im Sommer verhaftet wurde, mußte sich mit Sommersachen begnügen, bis er Kleidungsstücke eines verstorbenen Kameraden bekam. Die Wassersuppe war im Winter oft das einzig Warme, auf das die Häftlinge hoffen konnten. Trotzdem standen die Essenkübel oft noch stundenlang vor einem der vielen verschlossenen Tore. Die russischen Wachmannschaften scheuten wohl die Kälte und kamen nicht rechtzeitig zum Aufschließen.

Von Hygiene konnte keine Rede sein. Die Baracken waren verwanzt, Millionen Wanzen fielen über die Gefangenen her und zerstörten ihre Haut, die Läuse konnten auch durch häufige Entlausungen nicht beseitigt werden. Hinzu kamen Flöhe und Ratten, die nicht nur die Leichen anfielen. Es gab kein Toilettenpapier, kein warmes Wasser, die vor allem aus Lehm bestehende Seife war kaum brauchbar. Zahnpasta und –bürsten fehlten ebenso wie ein Zahnarzt. Um die Zähne – falls diese Goldkronen enthielten – kümmerten sich die Schlägertrupps der Barackenältesten. Sie zwangen die Gefangenen, sie sich herausreißen zu lassen, gegen etwas Brot. Wer sich weigerte, wurde nachts im Waschraum zusammengeschlagen, und wer dabei nur seinen Goldzahn verlor, hatte Glück. Nach dem Ausbruch von Darmerkrankungen erwiesen sich die vorhandenen Toiletten als unzureichend, besonders, wenn über Stunden das Wasser abgestellt wurde, herrschten unbeschreibliche Zustände. Durch die ungepflegten Gebisse und zahlreichen offenen Geschwüre herrschte schrecklicher Gestank in den Baracken. Es ab keine ausreichende medizinische Versorgung. Die Ärzte taten, was sie irgend konnten. Aber es fehlte an dem erforderlichen Gerät, an Medikamenten und vor allem an der Nahrung, die zur Genesung benötigt wurde. Über Jahre gab es keine Krankenkost, und als sie eingeführt wurde, reichte sie nicht, um die vom Hunger zerstörten Körper der Kranken wieder aufzubauen.

Zu dem lebensfeindlichen Mangel an Versorgung kamen die täglichen Zählappelle, die morgens und abends bei jedem Wetter durchgeführt wurden und bei denen die Häftlinge oft Stunden ohne angemessene Bekleidung im Freien stehen mußten. Strafen konnten willkürlich und ohne jegliche Möglichkeit einer Überprüfung verhängt werden. Besonders bedrohlich war die Bunker-Strafe, die in der Regel mit einer Kürzung der Rationen verbunden war und mit Einpferchung in einem Erdloch oder in ungeheizten Räumen.

Zur physischen Zerstörung der Gefangenen kam die psychische. Sie hatte im GULag-System große Bedeutung. Die Gefangenen lebten in ständiger Ungewißheit - über ihr eigenes Schicksal und über das Schicksal ihrer Angehörigen, die sie häufig in schwieriger Situation zurücklassen mußten. Vor allem litten die Familienväter, die sich um Frau und Kinder sorgten. Denn die Speziallager waren Schweigelager, hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen. Den Gefangenen war jeder Kontakt nach außen verboten. Nur wenigen gelang es, einen Kassiber hinauszuschmuggeln. Lediglich durch Neuzugänge kamen Nachrichten von der Außenwelt ins Lager. Die Gefangenen waren zu erzwungener Untätigkeit verdammt. Sie hatten weder Arbeit noch auch nur die Möglichkeit, sich selbst zu beschäftigen. Eine Fülle von Verboten engte sie ein, deren Übertretung zu schweren Strafen und damit zum Tod führen konnte. Bücher waren verboten, wie der Besitz von Papier überhaupt, von spitzen Gegenständen, also Bleistiften, Nähnadeln u.ä. Recht- und wehrlos waren sie der Willkür der Lagerprominenz ausgeliefert. Nicht wenige nahmen sich das Leben oder gaben sich einfach auf und gingen so an ihrer Verzweiflung zugrunde. Ein Spitzelsystem wurde von der Lagerleitung gepflegt und von Zeit zu Zeit angeheizt. Der Besitz einer Nähnadel oder eine kritische Äußerung über die Zustände konnte jedem zum Verhängnis werden, der an einen Spitzel geriet. Das hatte Störungen der Kommunikation und weitere Vereinsamung zur Folge.

Das alles hat zum Massensterben beigetragen, und es war nicht durch die Notsituation der Nachkriegszeit bedingt. Vielmehr war es Bestandteil der menschenfeindlichen Bedingungen, die die Lager des GULag-Systems zu perfekten Tötungseinrichtungen machten; auch ohne besonderen Tötungsbefehl. Die Inhumanität, eine der wichtigsten Prämissen der Lager, wurde bis zu ihrer Auflösung nicht behoben, die Hungernden starben weiter.

Nur wer das Lager nicht erlebt hat und auch internationale Forschungsergebnisse zum sowjetischen GULag-System ignoriert, kann das Speziallager beschreiben, wie es der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen bei der Vorstellung des Totenbuches tat.

(vgl. Natalja Jeske, in: Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945-1950, Band 1, Hrg. Mironenko, Niethammer, von Plato, in Verbindung mit Knigge u. Morsch, S. 223).

Quelle: Der Stacheldraht (Berlin), Juli 2008