FORUM ZUR
AUFKLÄRUNG
UND ERNEUERUNG
 
 

Bürgergespräch in Berlin-Hohenschönhausen am 14.3.2006
wurde zum Zirkel tschekistischer Geschichtsfälschung

 

Antwort des Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit:

"Offener Umgang mit den vom SED-Regime begangenen Verbrechen an der Demokratie
sowie Respekt vor den Opfern"

Sehr geehrter Herr Dobrinski,
Sie hatten mir Ende vergangenen Monats einen sehr lesenswerten Bericht zu den inzwischen in der Öffentlichkeit viel diskutierten Vorkommnissen anlässlich der Podiumsdiskussion "Sperrgebiet im Stadtraum . . . Hohenschönhausen" zugesandt. (...)
Ohne Zweifel ist ein solches massives, selbstbewusstes Auftreten von früheren Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit besorgniserrregend.
(Der Brief im Original)


Unser Schreiben an den Berliner Bürgermeister: Bürgergespräch am 14.3.2006
wurde zum Zirkel tschekistischer Geschichtsfälschung

An den Regierenden Bürgermeister von Berlin
Herrn Klaus Wowereit
Rotes Rathaus
10871 Berlin

Kopie: Herrn Senator Dr. Thomas Flierl
Frau Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich
Herrn Direktor Dr. Hubertus Knabe
Herrn Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen, Martin Gutzeit

Berlin, 17. März 2006

Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,

in der Bundeshauptstadt bewegt sich doch etwas. Nur ist es nicht immer zum Wohl der Stadt und des Landes, was da oder dort, Maulwürfen gleich, zur Oberfläche durchstößt.

So auch im Rahmen der im Betreff genannten Veranstaltung, die sich aus unserer Sicht genau den Pflichten der zeithistorischen Aufarbeitung der Vergangenheit stellt, die wir in der von Ihnen einberufenen Gesprächsrunde am 28.2.2006 unter dem unsererseits beantragten Tagesordnungspunkt „Zentrum gegen Vertreibungen“ wie folgt begründet hatten:

„Berlin war der Ausgangspunkt beider deutscher Diktaturen. Berlin hat sich diesen historischen Tatsachen zu stellen.“

Genau mit dieser Erwartungshaltung bin ich auch der Einladung zu dieser öffentlichen Veranstaltung gefolgt, ließ sie doch erwarten, daß hier an einem Durchbruch im vorgenannten Sinne gearbeitet wird. Und das ausgerechnet in dem von ideologischen „Altlasten“ gebeutelten Stadtbezirk Lichtenberg-Hohenschönhausen, wo die Stasi-Obristen in besten Wohnlagen um Oranke-/ Obersee, im „germanischen“ Viertel in Karlshorst..., begünstigt durch Eigentumserwerb an volkseigenen Ein-/ Zweifamilienhäusern bis 1989 oder danach durch das für diese Vollstrecker der kommunistischen Diktatur maßgeschneiderte Modrowgesetz, über die gegenwärtige Praxisanwendung von Lenins „Staat und Revolution“ brüten.

Minuten zu spät, bekam ich, wie auch andere, verdientermaßen nur Platz an/auf einem „Katzentisch“. Doch dieser Platz sollte sich alsbald als einer der besten in dem vielleicht mit dreihundert Besuchern gefüllten Saal erweisen. Eine Gästeblock, vielleicht eine gute Hundertschaft betagter Herren (vom Eingang bis Saalmitte ausgebreitet), war unübersehbar. Auffallend zudem durch ein „Einheitsgesicht“ - in Stein gehauene Ernsthaftigkeit und Verbissenheit. Es war nicht schwer zu ahnen, wer diese Herren waren.

Spätestes mit dem Einstiegsreferat von Peter Erler entwickelten sich diese gutbürgerlich gekleideten Herren zu einer „verbalgewaltigen“ Truppe. Zwischenrufe, Mißfallensäußerungen begleiteten den Referenten. Als herausgearbeitet wurde, daß das „Sperrgebiet im Stadtraum“ Stätte des Terrors und der Folter gewesen sei, wandelte sich das „Einheitsgesicht“ in eine wutverzerrte Maske. Nicht anders sollte es der nachfolgenden Referentin, Frau Prof. Stefanie Endlich, ergehen, wenn sie auch nur einen Schatten auf das Selbstbildnis der MfS-Obristen warf. Ein Zwischenrufer, es war wohl Herr Rataicik, begehrte gleich zu Beginn des Referats von Peter Erler mehrfach Anspruch auf wahrheitsgemäße Darstellung. Die Moderatorin, Frau Dr. Gabriele Camphausen, kam dem Störer ganz nobel entgegen und setzte ihn auf die Rednerliste, lange vor Eröffnung der Bürgerdiskussion. Zufrieden konnte sich der Herr zurücklehnen, seinen Anteil an der Zersetzungsstrategie war erfolgreich im Programmablauf placiert. Dies kann nur als Nachlese zu den „Geistesübungen“ der ehemaligen MfS-Hochschule in Potsdam-Eiche (Golm) gesehen werden (!). Eine Waffe - auch heute noch. Ich komme darauf zwangsläufig zurück.

Das hier zu beobachtende Szenario war geübte tschekistische Zersetzung im Großversuch; viele der Anwesenden hatten diese Form „psychologischer Kriegsführung“ in der Anwendung gegen die eigene Person oder Familie mit den tiefen Einschnitten in den Lebensverlauf erlebt.

Die Herren aus dem Gästeblock erlangten über die Auswahl der Wortmeldungen durch die
Moderatorin die Dominanz in der „Willensbildung“ zur (Nicht)Kennzeichnung des „Sperrgebiets im Stadtraum.“ Diese Bestimmtheit in der Feststellung war einfach festzumachen. Die MfS-Offiziere, auf das Erscheinungsbild eines disziplinierten und wohlerzogenen Elitecorps achtend, nannten Namen, Diensteinheit, Dienstjahre und Arbeitserfolge.

Nacheinander kamen zu Wort der Archivwart Dieter Skiba (HA IX/11), das MfS-Insiderkomitee, Wolfgang Schmidt (sogar mit Nennung der E-Mail-Verbindung), der Präsident des Kuratoriums der ostdeutschen Verbände und Vorsitzende der GRH, Siegfried Meschler (?) zugleich Solidaritätsnetzwerk für Streletz, Kessler, Krenz u. a. im Prozeß wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem EGMR in Straßburg *).

Irgendwann hielt es eine Dame in der hinteren linken Ecke (Sicht vom Podium) nicht mehr auf dem Stuhl. Mit hysterischer Stimme, zum Kollaps neigend, brachte sie zum Ausdruck durch die geplanten Kennzeichnung bedroht zu werden. Die Stimme ließ kein Schluß auf das Alter zu, es war die Stimme einer erfahrenen SED-Propagandistin, die so durchdringend den Raum einnahm.

Einer wartete immer noch geduldig: Siegfried Rataizik. Er konnte sich seines Winkelzuges ganz sicher sein. Den Augenblick seines Auftritts bestimmt er selbst, das wußte er.

Einer stürmte stattdessen an die Front, das war in diesem Fall der Freiraum zwischen der Bestuhlung für Gäste und dem Podium. Er wollte gesehen werden. Bei einem Körpermaß von etwa 159 cm wäre ihm das vom Platz aus versagt geblieben. Da stand er nun in ganzer Größe. In den vergeblichen Versuchen sich zu strecken, erinnerte er etwas an „Genossen Minister“ am 13.11.1989 in seiner Liebeserklärung gegenüber dem DDR-Volk vor der Volkskammer.
Dann ging’s zur Sache. Selbstbewußt und -sicher das Vorstellen: Name (für mich akustisch untergegangen), 35 Dienstjahre, Chef einer Abteilung der HVA, zuständig für die Aufklärung des Operationsgebiets Westberlin, Nennung der Anzahl der aufgeklärten Objekte (darunter die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit - KgU). Mit dem zur Schau gestellten Triumph übertrifft er sogar Markus Wolf. Eine Frage zwängte sich mir auf: Woher kommt das Verlangen, sich in dieser Weise selbst feiern zu wollen? Es kann m. E. nur ein temporärer Rückfall in die Gefühlswelt sein, die bei der Verleihung des Kampfordens „Verdienter Tschekist der Sowjetunion“, die höchste Ehrung in der kommunistischen „Kampfgruppe für Unmenschlichkeit,“ entstanden sein mag.

Endlich wurde er daran erinnert, daß doch Fragen gestellt werden sollten; diese richtet er personengebunden an Senator Dr. Flierl: „ ... ist denn auch daran gedacht, die Objekte in Westberlin, wie die Wirkungsstätte der KgU, mit entsprechenden Tafeln zu kennzeichnen. Material dazu sei reichlich vorhanden... Die Antwort von Herrn Dr. Flierl schien die Erwartungen des Fragestellers erfüllt zu haben, zumal die Darstellung des kalten Krieges entsprechende Erwähnung fand.

Danach erhielt eine Dame das Wort, die sich als Dorothea Döring und ehemalige BVV-Abgeordnete vorstellte. Die Fraktionszugehörigkeit mußte erst gar nicht genannt werden. Für Dr. Hubertus Knabe, der zuvor von Dieter Skiba als Gestalter eines „Gruselkabinetts“ abqualifiziert wurde, hatte sie eine entwaffnende Frage in Hinterhand, indem sie wissen wollte, was er denn unter Kommunismus verstünde ? Die „richtige“ Antwort gab sie dann doch lieber selbst. Ein zeitraubender Reanimationsversuch für den Kommunismus, der mit dem Stalinismus nun wirklich nichts zu tun habe, ließ sie auf der Einbahnstraße und Sackgasse der SED-Nachfolgepartei wandeln. Ein endloses Zitat, nicht aus den Klassikern des Marxismus-Leninismus, son-dern aus dem Brockhaus, selbstverständlich mit Jahrgangsangabe, sollte den unanfechtbaren Beweis liefern, daß der Kommunismus doch ein alternatives Gesellschaftsmodell ist.

Alle, damit meine ich insbesondere die Gastgeber, Herrn Senator Dr. Flierl und Frau Bürgermeisterin Emmrich, sahen diesem Treiben artig und gelassen zu. Es stellte sich die böse (?) Ahnung ein, da den Haßtiraden und Glorifizierungen der MfS-Haftanstalt kein Einhalt geboten wurde, daß sie sich wohl in einem demokratischen Forum, gestützt auf mehrheitlichen Bürgerwillen, wähnten.

Ich habe große Vorbehalte gegenüber Herrn Dr. Flierl, genährt durch seinen zaghaften Umgang mit den Verbrechen an der Berliner Mauer/innerdeutschen Grenze bei der Umsetzung der „Konzeption Mauergedenken“, hoffe jedoch, daß der (Un)Geist der MfS-Obristen nicht seinem eigenen Seelenempfinden nahe kommt.

Der Höhepunkt an diesem Abend des 14.3.2006 stand uns noch bevor: Siegfried Rataicik, Leiter der Abteilung Untersuchungshaftvollzug des MfS. Jetzt war Gelegenheit, die Theorie der Zersetzungsstrategie auf den Prüfstand zu nehmen. Die Rednerliste des MfS-Insiderkomitees mußte wohl abgearbeitet gewesen sein, das Ziel erreicht. Mit aufgesetzter Höflichkeit und sich selbst zusprechender Artigkeit brachte sich nun Herr Rataicik mit seiner Lobpreisung auf den MfS-Strafvollzug in Kampfstellung. Er erinnerte die Moderatorin, Frau Dr. Camphausen, daran, daß er doch als vierter auf die Rednerliste genommen wurde und bisher noch nicht das Wort erteilt bekommen habe.
  Oberst der Staatssicherheit Rataicik im März 2006

Frau Camphausen zeigte, daß es auch ihr nicht an Höflichkeit fehlt. Zwei, drei Entschuldigungen und Rataicik führte das „Ruder“. Daß er dem MfS-Strafvollzug den Status eines Fünf-Sterne-Hotels unter Berufung auf Eherhard Zahn verleihen wollte, muß angesichts der Forschungsergebnisse und vielen Zeit-zeugenaussagen als untaugliche Versuch des Reinwaschens gelten. Äußerlichkeiten dieser Stätte der Freiheitsberaubung gelten Rataicik noch heute als Beweis eines humanitären Straf-vollzugs, schließlich wollten doch alle Strafgefangenen gern nach Hohenschönhausen.

Welch eine Dreistigkeit, grausamer aber noch der unermeßliche Hohn gegenüber den Opfern der kommunistischen Diktatur!

Sehr deutlichen Widerspruch bekam der Leugner des Terrors von einem jungen Mann, der dem „Einheitsgesicht“ ein Zug von Erstaunen aufsetzte. Die Herren verstanden offensichtlich nicht, daß dieser junge Mann, im Alter der eigenen ideologisch gut ausgerichteten Kinder, schon wieder oder immer noch anders dachte als sie selbst.
Sie verstanden und verstehen diese Welt nicht mehr, sie blieben erstmalig an diesem Abend ganz ruhig.

Sehr geehrter Herr Wowereit, Sie werden sich natürlich fragen, warum dieser Brief überhaupt an Sie gerichtet wird.
Das ist mit wenigen Worten gesagt. Ich verbinde mit diesem Brief die große Bitte, daß Sie mit der Würde Ihres Amtes als Regierender Bürgermeister allen politischen Verantwortungsträgern im Senat und den Bezirksämtern nahelegen, einer Verherrlichung der beiden deutschen Diktaturen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten.

Vielen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

Reinhard Dobrinski
Vorstandsvorsitzender

*) nachzulesen in: „Die Aufarbeitung von DDR-Staatskriminalität und -Justizverbrechen“.
Hrsg. FORUM zur Aufklärung und Erneuerung e. V. S. 116, 131


Hintergrund ZETUNGSARTIKEL UND DAS
MDR-VIDEO (FAKT)
STASI-OPFER IM ABGEORDNETENHAUS BERLIN: ZEICHEN GEGEN DIE VERHARMLOSUNG

Denkzeicheneröffnung in Berlin-Friedrichshain

Bereits am 20. Oktober 2005 versuchten Offiziere des MfS, der ISOR und der DKP (Plakate hinten), mit Protesten gegen die Eröffnung eines Denkzeichens in Berlin die Menschenrechtsverletzungen in einem Folterkeller des russischen Geheimdienstes GPU zu verharmlosen.